Dörfer in üppiger Natur - Ikaria im Sommer der Krise 2012, Teil 1
Ikaria ist eine eigentümliche, mit Naturschönheiten best ausgestattete Insel. Brauchtum, Musik, Lieder und Tänze haben einen unverwechselbaren Charakter und die Mundart enthält heute noch Wörter, die aus der Antike hinüber gerettet worden sind. Die Wirtschaftskrise hinterlässt auch hier ihre Spuren, aber sie kann den Bewohnern die Lust am Feiern nicht vergraulen.
Ikaria ist reich an Wasser. Vor allem an den weniger steilen Berghängen der Nordseite der Insel sprudeln zahlreiche Rinnsale, bilden Stauseen und lassen sprießen, was die fruchtbare Erde hergibt. Riesige Platanen, kräftige Eichen, Kastanienbäume mit ihren stacheligen Früchten, hohe Olivenbäume und dann vor allem alle Arten von Obst, die hier gedeihen: Aprikosen, Pfirsiche, Sauerkirschen und Mirabellen. In diesem Jahr sind nicht wenige Äste unter der Last ihrer Früchte abgebrochen Die Ikarioten kochten tonnenweise Marmelade und Löffelsüßigkeiten ein. Aber nur für ihre Familien. Das meiste Obst verfaulte an den Bäumen. Besonders üppig sind die wasserhaltigen Talfurchen bei Raches im Westen und bei Messaria in der Mitte der Insel. Sieben Dörfer ziehen sich in Messaria hinauf bis auf 800 Höhenmeter. Deren auseinander stehende Häuser sind eingebettet in die überwältigende Vegetation, aus der nicht nur die Gerüche, sondern auch die Geräusche der von den Bauern gehaltenen Tiere dringen: Kühe, Esel, Hühner, bellende Hunde, Schweine, Pferde (der neueste Trend) und vor allem Ziegen und immer wieder Ziegen, unten in den Tälern an einem kurzen Seil am Fuß angebunden, oben in den Bergen als Wildziegen, die frei herumlaufen, bis sie für die Feste eingefangen werden, in den Kesseln einer Gemeinschaftsküche oder im Restaurant Phlisphos im Hafenort Evdilos als köstliche Spezialität landen.
Die alten Steinhäuser mit schmalen hohen Fenstern und schweren Schieferplatten als Dach verstecken sich meist hinter der üppigen Vegetation, vor sich einen einladenden und schattigen Vorhof, der im Sommer ein Leben im Freien ermöglicht. An den Straßen und rund um den Kern der Dörfer herum wurden in den vergangenen Jahren viele der Häuser aufwändig und bisweilen geschmacklos restauriert. Wo der Zugang mit dem Auto nicht möglich ist, stehen sie meist unbewohnt und verfallen allmählich. Dann werden sie Opfer der Grafittisprüher, die ihre Parolen überall hinterlassen, wo sich eine größere Wand anbietet. An einem dieser Ruinen entdeckte ich fünffach das mit einer Schablone aufgetragene Emblem der PASOK. Darunter hatte jemand mit dem Pinsel das Wort „Siemens“ gemalt, und wieder ein anderer hat weißen Kalk darüber gestrichen. Die Botschaft kommt trotzdem an.
Die politischen Diskussionen sind auch in Ikaria leiser geworden. Aber man trifft die Opfer der Krise: Der größte Haushaltswaren- und Baustoffhändler in dem Hafenort Evdilos musste Insolvenz anmelden. Der Landwirt Kountoupis besitzt einige Grundstücke rund um Akamatra mit Olivenbäumen, Obst, Kartoffel- und Getreidefeldern sowie einen kleinen Weinberg. Dazu kommt etwas Vieh, eine Kuh, mehrere Ziegen und Hühner. Da die Einkünfte daraus nicht ausreichten für seine Familie mit vier Kindern, hat er eine kleine Baufirma aufgemacht, deren Erlös er zur Bank trug. Doch seit zwei Jahren hat er keinen einzigen Auftrag mehr erhalten. Zwei seiner vier Kinder befinden sich noch in der Ausbildung. Stelios studiert seit einem Jahr Weinbau an der technischen Hochschule in Nemea. Dimitra hat soeben einen Studienplatz in Rhodos erhalten, wo sie sich zur Kindergärtnerin ausbilden lassen will. Demnächst fahren Eltern und Tochter nach Rhodos, um nach einer Unterkunft zu suchen. „Es ist abzusehen, wann unser Sparkonto abgeräumt sein wird“, äußert sich Dimitris.
Die Lehrerin einer Privatschule mit zwei kleinen Kindern erhielt zu Beginn der Ferien die Kündigung. Der Direktor hat das Los entscheiden lassen. Sie weiß nicht, wie sie den Kredit für ihre Wohnung abzahlen kann. Einem früheren Bürgermeister wurde die Rente von 1500 Euro auf 900 Euro gekürzt. Da er Land besitzt und die Kinder aus dem Haus sind, kann er das verschmerzen. Die Cafés und Tavernen werden nicht weniger aufgesucht als früher. Bis auf eines. Der Besitzer soll im Juni die Nazipartei gewählt haben. Jetzt wird er geschnitten. Noch vor zwei Jahren lagen große Holzprügel vor einem kleinen Haus in Evdilos, in dem der Bäcker Karnavas ein sehr schmackhaftes Holzofenbrot gebacken hat. Die Bäckerei ist zu. Dafür gibt es drei Schönheitssalons allein in Evdilos.
„Freie Republik Ikaria“
Neulich ging die Meldung durch die Presse, dass Ikaria aus Griechenland ausscheiden wolle und eine Art autonome Republik anstrebe. Tatsächlich sind einige Häuser mit blauen Fahnen beflaggt, auf denen steht „Freie Republik Ikaria“. Darunter darf man allerdings die Jahreszahl 1912 nicht übersehen. Ganz Ikaria beging in diesem Sommer mit zahlreichen Veranstaltungen das hundertjährige Jubiläum seiner Befreiung vom Osmanischen Reich. Am 17. Juli 1912 vertrieben ikariotische Aufständische unter Führung des Arztes Malachias die kleine türkische Wachmannschaft. Die Insel bildete von da ab einen unabhängigen Freistaat mit eigener Regierung, Armee und Hymne. Als die Versorgung der Insel und auch trotz eigener Briefmarken die Postdienste nicht funktionierten und die Gefahr bestand, dem unter italienischer Verwaltung stehenden Dodekanes einverleibt zu werden, beschloss man, Griechenland um Aufnahme zu bitten. Im November desselben Jahres war die Existenz der Freien Republik Ikaria beendet.
Ikaria war wegen seiner topographischen Beschaffenheit mit seinen im Süden steil abfallenden Gebirgen und im Norden fehlenden Buchten für eine Landung von Piraten und kriegerischen Nachbarn nie von seiner autochthonen Bevölkerung leer geräumt worden wie etwa Samos und viele andere Inseln. Das hatte zur Folge, dass Sprache – die Mundart enthält heute noch Wörter, die aus der Antike hinüber gerettet worden waren –, Brauchtum, Musik, Lieder und Tänze einen unverwechselbaren Charakter haben. Offensichtlich auch der Lebensrhythmus. Ich kenne keinen Menschenschlag, der sich so langsam bewegt und völlig andere Zeitvorstellungen hat wie die ikariotischen Bewohner, die im Sommer erst nach 20 Uhr zu leben beginnen und dann aber bis weit nach Mitternacht ihren Geschäften oder dem Vergnügen nachgehen. Vor 20.30 Uhr hat es keinen Sinn, in den Dörfern oben auf den Bergen einen geöffneten Laden zu suchen.
Lebensfreude und Langlebigkeit
Allerdings darf man nachts keine Ruhe erwarten. Bis in den Morgen hinein wird das Ohr des Besuchers umschmeichelt oder belästigt von den Weisen des Ikariotiko, der die Dorf- und Kirchenfeste der Insulaner begleitet, die in den Sommermonaten beinahe jeden Tag woanders gefeiert werden. Der Ikariotiko wird von einer Geige als Melodieträger und einer Laute für den Rhythmus gespielt und beruht auf einem gleichmäßig fortschreitenden Rhythmus, der nach jedem Takt mit einer schnellen Schrittfolge, ganz ohne Heftigkeit aufgelöst wird. Trotz oder wegen der Krise hatten diese Feste heuer mehr Zulauf als je zuvor. Ob jung oder alt, beinahe jeder Ikariote beherrscht diesen ziemlich komplizierten Reigentanz. Die Dorffeste erreichen ihren Höhepunkt erst weit nach Mitternacht und enden nicht vor 9 Uhr morgens. Vor zwei Jahren erlebte ich auf einem Dorfplatz eine Hochzeit, die mit einer Trauergemeinde zusammenstieß. Während die Trauergäste mit hängenden Gesichtern ihren Trostkaffee nippten, tanzte daneben die Hochzeitsgesellschaft fröhlich, wenn auch ermattet den Ikariotiko. Vielleicht ist diese Sinnenfreude auch dafür verantwortlich, dass die Bewohner dieser Insel im Schnitt älter werden als alle anderen Europäer. Der amerikanische Sender CNN hat neulich berichtet, dass eine Untersuchung ergeben hat, dass auf Ikaria 120 Personen mit über 90 Jahren leben. Das ergibt mit 1,5 % einen weitaus höheren Durchschnitt als irgendwo anders – nicht nur in Europa.
Bei Youtube findet man Aufzeichnungen von Dorffesten und deren Musik, die erst nach dem Morgengrauen stattgefunden haben und deshalb besonders authentisch sind. http://www.youtube.com/watch?v=UT6BQF0UwOA
Vielleicht ist es zweihundert Jahre her, dass Piraten, die nach Ikaria eingefallen waren, einen Jungen vergessen hatten. Einheimische fanden ihn nach Wochen verwildert und hungrig. Sie nahmen ihn auf und gaben ihm den Namen Tsakalias (der Schakal). Im Kafenion von Akamatra oder im Café Tourva in Evdilos sieht man in den Sommermonaten täglich einen Mann sitzen, der durch sein langes offen getragenes graues Haar auffällt, Argyris Tsakalias. Vor fünfzig Jahren hat er sich zusammen mit dem Patriarchen Bartholomäos auf ein hohes Amt in der griechisch-orthodoxen Kirche vorbereitet, dann kam der Bruch mit der Kirche. Er heiratete, zeugte drei Kinder, darunter die schöne Tochter Elektra, die bisweilen in Fernsehserien auftritt. Die Ehe ging in die Brüche. Argyris wurde ein glühender Vertreter des Anarchismus. Im Athener Künstlerviertel Exarchia führt er eine Buchhandlung mit einschlägiger Literatur. Argyris hat eine Schwester, namens Moshula, die mit dem Priester Xiros verheiratet ist. Sie haben zusammen 11 Kinder zur Welt gebracht. Drei von ihnen sitzen im Korydallos-Gefängnis eine lebenslange Strafe ab. Sie waren Mitglieder der Terrororganisation „17. November“, die 21 Menschen ermordet hat. Ich fragte den ehemaligen Bürgermeister von Akamatra, ob denn niemand etwas von dem Treiben der drei Brüder wusste. „Natürlich wussten wir, dass sie extremistische Linke waren. Doch von der Sorte hatten wir immer schon alle Varianten auf Ikaria. Wir wussten, wie sie dachten, aber nicht, wie sie handelten.“ Viele junge Griechen wallfahren heute nach Akamatra wegen der Xiros-Brüder. Im vergangenen Jahr fand eine Ausstellung von Malereien von Christodoulos Xiros statt, die er im Gefängnis angefertigt hatte.
Quelle: Griechenland.de